“Sowohl als auch” und das Geschenk der Gleichzeitigkeit

Um das Thema aus dem letzten Beitrag aufzugreifen:

Manchmal sehne ich mich nach einfachen Antworten. Nach Lösungen für komplexe Probleme.
Ja oder nein. Richtig oder falsch. Entweder oder.

Und doch weiß ich längst: Mein Leben funktioniert so nicht.
Die Welt funktioniert so nicht.

In der systemischen Beratung gibt es eine Methode, die dieses Dilemma wunderbar sichtbar macht: das Tetralemma.
Es eröffnet mehr als nur die klassische Entweder-Oder-Logik.
Es zeigt vier, manchmal sogar fünf Wege und damit unerwartete Freiheitsgrade:

  • Entweder A
  • Oder B
  • Sowohl A als auch B
  • Weder A noch B
  • Und dann: Noch etwas ganz anderes

Es klingt so einfach – und fühlt sich manchmal so unmöglich an.

Ambivalenz ist eine treue Begleiterin auf meinem Weg:
Nähe und Sicherheit sind mir sehr wichtig, gleichzeitig wünsche ich mir Freiheit und Unabhängigkeit. Ich spüre Freude an Vielfalt und gleichzeitig die Sorge, mich zu übernehmen.
Ich liebe die Offenheit neuer Möglichkeiten und merke dennoch, wie sehr mein inneres System manchmal nach Ruhe und Sicherheit schreit.
Ich kenne beides: Die Erleichterung, wenn ich mich festlege. Und die Enge, die daraus entstehen kann.

Was ich aus der systemischen Perspektive gelernt habe:
Manchmal geht es nicht darum, schneller zu entscheiden.
Manchmal geht es darum, länger im Sowohl-als-auch auszuhalten.

Gleichzeitigkeit ist ein Geschenk.

Und das ist nicht nur eine psychologische Frage, sondern auch eine körperliche.

In den Büchern “Polysecure” und “Polywise”, die ich vom Englischen ins Deutsche übersetzen durfte, wird wunderbar beschrieben, wie unser Bindungssystem funktioniert und unser Nervensystem zwischen Sicherheit und Alarmzustand hin und her pendelt.
Wenn unser System unter Stress und Anspannung steht, dann schrumpft unser inneres Spielfeld. Wir suchen nach Eindeutigkeit. Nach (vermeintlicher) Sicherheit in Klarheit.
Wir urteilen schneller, bewerten schneller, ordnen schneller ein.

Im öffentlichen Raum, in Nachrichten, in sozialen Medien zeigt sich das überall. Ein diffuses Gefühl der Überforderung, der Angst vor (Kontroll-)verlust plagt viele, ein Gefühl von Abgehängtsein, Unbedeutsamkeit in einer immer schneller, lauter, größer, komplexer erscheinenden Welt. Der unbewusste Vergleich, die Suche nach Halt und Orientierung beantwortet sich mit der Einteilung in “Wir vs. “die Anderen””, mit Vorurteilen, Klischees und Versprechen in Ideologien.
Wer im Stress ist, sucht nach Bestätigung.
Und manchmal fühlt sich auch negative Bestätigung gut an:
„Ich wusste es doch. Hab ich doch gleich gesagt, dass…”
Ein kleiner Dopamin-Kick. Ein kurzer Moment von „recht haben“.

Je mehr unser inneres System in Alarmbereitschaft ist, desto weniger Sowohl-als-auch können wir zulassen.


Wer sich hingegen sicher(er) in sich selbst und/oder seinem Umfeld fühlt, kann Unterschiedlichkeit und Ambivalenz besser aushalten. Die sogenannte Ambiguitätstoleranz wächst. Neben äußeren Faktoren kann innere Sicherheit mit Übung wachsen, Selbstwert kann gestärkt und Methoden zur Selbstberuhigung können gelernt werden.

Wenn ich auf mein eigenes Leben blicke, bin ich dankbar, dass ich gute Erfahrungen machen durfte mit dem „Sowohl-als-auch“ und der Gleichzeitigkeit von Gefühlen und Erlebnissen:

  • In Beziehungen: Es gibt nicht nur Nähe oder Distanz. Es gibt Zwischenräume, Bewegung, Verhandeln.
  • In der Erziehung: Es gibt nicht nur Freiheit oder Grenzen. Es gibt Führung und Vertrauen gleichzeitig.
  • Im Beruf: Ich darf Beraterin, Wissenschaftlerin, Podcasterin und Autorin zugleich sein. Nicht immer perfekt. Aber ganz und gar passend für mich.

Manchmal bedeutet Wachstum nicht, sich zu entscheiden.
Sondern die Fähigkeit zu entwickeln, Mehrdeutigkeit zu halten.

Vielleicht ist das die eigentliche Übung:
Nicht nur Antworten zu suchen, sondern Räume offen zu halten.
Nicht nur recht haben zu wollen, sondern neugierig zu bleiben.

Sowohl als auch.
Weder noch.
Und manchmal: Etwas ganz anderes.

Schön, dass du hier bist.


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